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Die 68er

Von Bruno Bollinger, gesprochen von Martin Butzke

Über mutige Verteidiger des offenen Wortes im Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein

Als das Projekt zu diesem Buch im ISSV-Vorstand diskutiert wurde, erwachte mein Interesse nachzuforschen, wie 68 in den damaligen ISV einwirkte. Ich bin 2007 in den Verein aufgenommen worden, kenne also die hier beschriebene Zeit nur aus offiziellen Dokumenten. Und ehrlich gesagt, ich wusste 1968 auch nicht, dass es einen ISV gab.

 

Was 68 war und was es bedeutet, darüber sind unzählige Abhandlungen verfasst worden und werden es noch werden. Ich erlaube mir hier den Historiker Oliver Landolt zu zitieren, der es im Mitteilungsblatt des Historischen Vereins Zentralschweiz so beschreibt: «Die 68er-Bewegung steht für einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch, der insbesondere die westliche Zivilisation erfasste. Durch diesen Aufbruch wurden Reformprozesse eingeleitet, welche als Langzeitfolge unsere Gesellschaft in verschiedenen Bereichen zentral umgestaltet haben. Der jugendliche Protest machte auch vor der damals gesellschaftlich wie politisch sehr konservativen Traditionen verhafteten Zentralschweiz nicht halt, sondern fand dort ebenfalls einen fruchtbaren Nährboden.»[1]

 

Im gleichen «Geschichtsfreund» wurde ich in einem Artikel von Jakob Tanner mit dem Titel «Die 68er-Bewegung als Symptom und Katalysator soziokulturellen Wandels» sogar zitiert: «Die Orientierung in der Gesellschaft machte sich an neuen Zeichen fest. Schriftzüge, Möbelstücke, Produktdesign, Kleidermode und Frisuren änderten sich. Eindrücklich schildert dies der in Zug aktive Bruno Bollinger. Am 1. Mai 1968 besuchte er noch in Mesocco (im südlichen Graubünden) die 2. Sekundarklasse. Anfang Juli kam er nach Zug, wo er beim Elektro-Unternehmen Landis & Gyr eine Anstellung als Ausläufer der internen Post hatte: ‹Ich war fünfzehn und von Gewerkschaften hatte ich keine Ahnung, und auch von Politik verstand ich nicht viel. Beeindruckt war ich aber von den Langhaarigen und von der Beat-Musik. Den Mai 68 hatte ich im Fernsehen gesehen. Gleich am ersten Tag, als ich in Zug ankam, sah ich einen mit langen Haaren, und gleich gefiel mir Zug besser.›»[2]

 

Der ISSV hiess 1968 noch ISV (Innerschweizer Schriftsteller Verein), und der Vorstand bestand aus Josef Konrad Scheuber (Präsident seit 1961), Arthur Müller (Vizepräsident), Fritz Ineichen (Kassier), Hedwig Bolliger (Aktuarin) und Julian Dillier (Archiv). Und die Aktuarin wurde bereits als «Aktuarin» bezeichnet, jedoch noch standesgemäss als «Fräulein» angeschrieben!

 

Im Vorstand war also jemand, der dem Geist von 68 zugeneigt war, Julian Dillier – aber darüber später in diesem Text. 68 fand ja nicht nur im Jahr 1968 statt. Viele 68er/innen waren da noch zu jung, um sich als Schriftstellerinnen oder Schriftsteller etablieren zu können. Und überhaupt, 68er/innen hatten keinen Bock auf Vereinsmeiereien. Dominik Brun erinnert sich, dass zum Beispiel Otto Marchi und Heinz Stalder sich weigerten, in diesen «Pfarrherrenverein» einzutreten.

 

Ich habe mich an die offiziellen ISSV-Dokumente gehalten. Ich weiss aber, als einer, der hunderte von Protokollen geschrieben und ebenso viele zur Geschichtsforschung gelesen hat, dass nicht immer alles in den Protokollen festgehalten wird, was an der Sitzung gesagt wurde. Ganz abgesehen davon, dass die informellen Diskussionen beim Glas Wein nach der Sitzung mehr über die «Mentalität» der Teilnehmenden aussagen würden.

 

Am 7. und 8. September 1968 fand in Chur eine Alpenländische Begegnung zum Thema «Rätoromanisch» statt, die vom ISV organisiert worden war. Der kurz davor erfolgte Einmarsch der sowjetischen Truppen in der Tschechoslowakei veranlasste die Anwesenden zu einer Solidaritätsbotschaft: «Dichter und Schriftsteller des Alpenraumes, die sich zum freien Gespräch in Bad Passugg bei Chur (Schweiz) zusammengefunden haben, entbieten Euch, freiheitsliebende Dichter und Schriftsteller des tschechoslowakischen Volkes, in Bewunderung und tiefer Verbundenheit Gruss und Handschlag. Mit eurem mutigen Kampf im Namen Eures Volkes habt Ihr für Menschenwürde und freies Menschentum eindrücklich Zeugnis abgelegt.»[3]

 

Da die Protokolle der ISV-Sitzungen im Jahr 1968 im Archiv fehlen, konnte ich nicht nachschauen, ob und wie im ISV die rebellierende Jugend oder der Aggressionskrieg der USA gegen das (nord-)vietnamesische Volk ebenfalls zur Kenntnis genommen wurden.

 

An der Tagung in Chur referierte ISV-Präsident Josef Konrad Scheuber: «Wo steht die Alpenländische Dichtung heute? Wie begegnet sie dem Auf- und Einbruch der Moderne? Wie können wir unsere Eigenart und Eigenständigkeit im Zeitalter ideeller Evolutionen und geistiger Weltrevolutionen behaupten?»[4] Die drei Fragen mussten zwar «unbeantwortet bleiben», sie deuteten jedoch darauf hin, dass Scheuber zumindest spürte, dass unruhige Zeiten anbrachen und Veränderungen im Gange waren.

 

Josef Konrad Scheuber war katholischer Priester, er wurde 1973 vom Benediktinerpater und Gymnasiallehrer Dr. Bruno Stephan Scherer als ISV-Präsident abgelöst. In den ISV-Vorstand wurden neu Augustin Zehnder als Kassier, Walter Käslin als Aktuar und Maria Simmen als Mitarbeiterin ISV-Archiv gewählt. Vom alten Vorstand war nur Julian Dillier geblieben, der nun Vizepräsident wurde.

 

Kulturkampf im Schweizerischen Schriftsteller-Verein (SSV)

1969 gab der Bundesrat im Rahmen der «Geistigen Landesverteidigung» einen Ratgeber über den zivilen Schutz des Landes heraus: Das sogenannte «Zivilverteidigungsbuch». Damit sollte die Widerstandskraft des Volkes gestärkt und die Unabhängigkeit der Schweiz gesichert werden. Verschiedene Kreise kritisierten das Zivilverteidigungsbuch heftig, da es Gruppen wie Gewerkschafter/innen, Intellektuelle, ausländische Personen und selbst Schauspieler/innen als potenzielle Verräter darstelle.

 

1970 übersetzte Maurice Zermatten, Oberst und Präsident des Schweizerischen Schriftsteller-Vereins (SSV), das «Zivilverteidigungsbuch» auf Französisch und verschärfte dieses in seiner reaktionären Ausrichtung. Beim SSV kam es zu heftigen Protesten. Ihrer Ansicht nach hatte das Buch eine antikommunistische Tendenz, wodurch alle linken Intellektuellen zu Landesverrätern gestempelt würden. In jenen Jahren war die Welt noch im Kalten Krieg, d. h. aufgeteilt in die Guten im Westen und die Bösen im Osten. Eine grosse Zahl von Autor/innen trat aus dem SSV aus und gründete 1971 die Autorengruppe Olten, kurz Gruppe Olten genannt.

 

Der ISV gehörte «laut alten und vorgeschlagenen neuen Statuten als Regionalverband» dem SSV an.[5] Aus den vorhandenen offiziellen Dokumenten ist nicht zu entnehmen, was der ISV-Vorstand zur Gruppe Olten meinte. Der ISV blieb jedenfalls in Kontakt mit dem SSV, der am 27./28. April 1974 seine ordentliche Mitgliederversammlung in Luzern abhielt. «Wir heissen ihn schon jetzt in der Innerschweiz willkommen», wurde im ISSV-Mitteilungsblatt verlautet.[6]

Deutlich Stellung nahm ISV-Mitglied Hans Kurmann, der am 7. Dezember 1976 im «Luzerner Tagblatt» von einer Buchvernissage vom 3. Dezember 1976 berichtete und kommentierte: «Noch wohnliche Welt. Wie manches heuer der mit Innerschweizer Tinte geschriebenen Bücher nähme der Geist der ‹Oltner Gruppe› an? Und wie mancher ihrer Autoren unseres Bodens sieht die Welt in zwei Klassen geteilt: in Kläger und Angeklagte? Die Mehrzahl der ISV-Mitglieder sieht die Welt noch reicher, bunter, ihre Heimat noch wohnlich – und deshalb bildet ihr Schrifttum schon fast einen Sonderfall. Warum sollte es nicht?»[7] 2002 löste sich die Gruppe Olten auf und ging in die AdS (Autorinnen und Autoren der Schweiz) über.

 

1979 löst Julian Dillier Bruno Stephan Scherrer als Präsident ab. Im Vorstand sind: Walter Kaeslin als Vizepräsident, Dominik Brun als Aktuar, Augustin Zehnder als Kassier und Maria Simmen als Bibliothekarin. Julian Dillier, schon seit 1967 im ISV-Vorstand, zuerst als Aktuar, dann als Vizepräsident, wird am 24. Oktober 1979 an der ISV-Jahresversammlung in Entlebuch als Präsident gewählt. In seiner Antrittsrede schlägt er deutliche Töne an: «Da Sie mich, liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, als einen etwas aufmüpfigen, in unserem fragwürdigen Zeitalter und unserer veränderungsbedürftigen Gesellschaft nicht so ganz unkritischen Mitbürger kennen, verstehe ich diese Wahl auch als Auftrag, in unserer gemeinsamen Arbeit Zeichen des Widerstandes zu setzen und nicht alles hinzunehmen, was eine offizielle Meinung der Menge oder sogar hie und da die Mehrheit als richtig nominiert. Ich verstehe mein Mandat nicht wie ein Prestige, sogar nicht einmal präsidial. Ich möchte vielmehr Sprecher jener Anliegen sein, denen das ehrlich und wahrlich geäusserte Wort Prinzip ist. Ich möchte immer und immer wieder dartun, dass das ehrliche Wort des wahrheitsliebenden und gemeinschaftsverbundenen Schriftstellers wahrgenommen, überlegt und auch etwas mehr Achtung in der Öffentlichkeit verdient. Wir Schriftsteller wissen uns wie der Künstler und Musiker als Mitgestalter der Gemeinschaft. Unser Mitgestalten ist aber bar jeder materiellen Macht und Gewalt, bei uns kann nur der Einfluss unserer Creativität und die Macht des guten und wahren Wortes wirken. In diesem Sinne verstehe ich den Schriftsteller in unserer Zeit aber weniger als eine Art Hof-, Stadt- oder Heimatdichter, der die Regierenden unserer Tage, die Zustände in unserer Umwelt und den Fortschritt hinnimmt, bestätigt und hochpreist ohne jeden Vorbehalt, nur weil auf diese Weise Preise und Lorbeeren zu erwarten sind, sondern ich verstehe ihn als mutigen Verteidiger des offenen Wortes, der auch bereit ist, sich – wenn auch nicht in die Nesseln setzen zu lassen – so doch in die Nesseln der Wirklichkeit zu greifen, selbst auf die Gefahr hin, sich daran die Finger zu verbrennen.»[8]

Der von Daniel Annen und Dominik Riedo herausgegebene Sammelband «Schneisen ins Heute» über die Geschichte des Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellervereins seit seiner Gründung 1943 kann bei Pro Libro bezogen werden.

[1] Oliver Landolt, 1968 und die Zentralschweiz – einleitende Bemerkungen, in: Der Geschichtsfreund 172, 2019, S 5–8, hier S. 6.

[2] Jakob Tanner, «Winds of change» in den Voralpen: Die 68er-Bewegung als Symptom und Katalysator soziokulturellen Wandels in: Der Geschichtsfreund, 172, 2019, S. 9–21, hier S. 19.

[3] ISV-Mitteilungsblatt, Oktober 1968.

[4] Walter Zitzenbacher, Bericht der 5. Alpenländischen Schriftstellerbegegnung im Österreichischen Rundfunk, 16. September 1968.

[5] ISV-Mitteilungsblatt, Dezember 1975.

[6] ISV-Mitteilungsblatt, Dezember 1973.

[7] ISV-Mitteilungsblatt, Dezember 1976.

[8] Antrittsrede Julian Dillier, ISV-Jahresversammlung, 24. Oktober 1979, Entlebuch.

[9] ISV-Mitteilungsblatt, Dezember 1979.

[10] ISV-Mitteilungsblatt, Dezember 1979.

[11] Protokoll der ISV-Jahresversammlung, 12. September 1987.

 

ISV-Vorstand solidarisiert sich mit Hans Küng

1979 entzog die Deutsche Bischofskonferenz dem aus Sursee stammenden Schweizer Theologen Hans Küng die kirchliche Lehrbefugnis, weil er die päpstliche Unfehlbarkeit kritisch diskutierte. In der Schweiz und in Deutschland kam es zu Protestdemonstrationen, so auch in Luzern. Der ISV-Vorstand beschloss einen Protestbrief: «Sehr geehrte Herren Bischöfe, der Entzug der missio canonica für den in Tübingen lehrenden Schweizer Theologen Hans Küng, mit dem wir uns als Innerschweizer Autoren ganz besonders verbunden wissen, hat uns bestürzt und schmerzlich betroffen. […] Für unzählige aufrichtig suchende Menschen ist der Theologe Hans Küng ein Halt in stürmischer Zeit. Eine Kirche, die schöpferisches Suchen nach Wahrheit und Infragestellen von kirchlichen Erkenntnissen durch Verwaltungsentscheide verhindert, missachtet das Menschenrecht auf freies und ungehindertes wissenschaftliches Forschen. Die Missachtung von Menschenrechten aber beginnt nicht erst bei der körperlichen Folter, sondern bereits bei der Verweigerung eines geistigen Rechts. […] Aus dieser Sorge heraus bitten wir Sie als Innerschweizer Schriftsteller, darauf zu wirken, dass das Lehrverdikt der Glaubenskongregation neu überdacht und zurückgezogen wird. Für den Vorstand des ISV: Julian Dillier (Präsident), Walter Käslin (Vizepräsident), Maria Simmen, Augustin Zehnder und Dominik Brun».[9]

Bruno Stephan Scherrer reagierte differenziert auf den Vorstandsbeschluss: «Für den neuen Präsidenten und den Vorstand des ISV stellte sich nun die Frage, ob sie auch mit einer Stellungnahme an die Öffentlichkeit treten sollten. Julian Dillier und der neue Vorstand entschieden sich für einen ‹Offenen Brief des ISV an die Schweizer Bischöfe›, der hier abgedruckt wird. Der Titel müsste aber lauten: ‹Offener Brief des ISV-Vorstandes …›, denn die einzelnen Mitglieder des ISV konnten sich ja darüber nicht äussern. Vor allem möchte ich betonen (um so einige Zuschriften und Stimmen zu beruhigen), dass die beiden Vorgänger im ISV-Präsidium nicht angefragt wurden – absichtlich, wie mir Julian Dillier (am 7.1.80) schreibt, weil ich ‹als Ordensmann in der Entscheidung nicht ganz unabhängig gewesen› wäre. Es stimmt, ich selbst hätte mich als Seelsorger, der die Kirche liebt und der – in vielen Gesprächen und Briefen – das ganze Geschehen im ‹Fall Küng› als bedauerliche, schmerzliche und tragische Selbstzerfleischung der Kirche erlebt, äussern müssen. Der Schaden, vorab in der Jugend, ist gewaltig.»[10]

 

Alpnach Dorf im September 1987: Der ISV wird zum ISSV

Dominik Brun löst 1986 Julian Dillier als Präsident ab, Franz Züsli-Nicosi wird Aktuar, Augustin Zehnder bleibt Kassier, und Max Huwyler kommt neu in den Vorstand. Am 12. September 1987 reist die ISV-Gemeinde nach Alpnach Dorf, wo Dominik Brun seine erste Mitgliederversammlung leitet. Auch Franziska Greising ist dabei, die zwei Wochen davor folgenden Antrag eingereicht hatte: «Aenderung von Art. 1 der Statuten, und zwar soll der Innerschweizer Schriftstellerverein umbenannt werden in ‹Innerschweizer Schrifsteller- und Schrifstellerinnenverein›.»

 

Wie das an der Jahresversammlung aufgenommen wurde, hat Franz Züsli-Nicosi protokolliert: «Dominik Brun weist auf Art. 11 der Statuten hin, wonach Statutenänderungen einer Zweidrittelsmehrheit der Jahresversammlung bedürfen. Der Vorstand stimmt dem Antrag zu auch im Wissen, dass der Schweizer Schriftsteller-Verein einen ähnlich lautenden Antrag an seiner Generalversammlung angenommen hat. Die Diskussion zeigt, dass der Antrag nicht unbestritten ist. Insbesondere weibliche Mitglieder erklären in der Diskussion eine Aenderung der Vereinsbezeichnung als wenig notwendig und wenig dringend. Die erste Abstimmung muss wiederholt werden, da unklar ist, ob auch Nicht-Stimmberechtigte sich an der Abstimmung beteiligt haben. Die zweite Abstimmung ergibt eine statutenmässige Zweidrittelsmehrheit bei 8 Gegenstimmen und 1 Enthaltung.»[11] Laut Protokoll waren 50 Mitglieder und Gäste anwesend.

Mit der Feminisierung des Vereinsnamens kann festgehalten werden, dass 68 nach fast zwanzig Jahren auch im ISSV angekommen ist.

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