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Über Romano Cuonz

Von Pirmin Meier

Berichterstatter mit der Seele eines Poeten

Romano Cuonz (1945–2023) war als vielseitiger Autor profilierter Mitarbeiter des SRF-Regionaljournals Innerschweiz, Chronist und unvergleichlicher Kenner des Bürgenstocks und Meister des volkskundlichen Porträts wie wenige Autoren der alpinen Schweiz einem breiten Publikum bekannt. Für seine Person aber blieb er zurückhaltend, beinahe öffentlichkeitsscheu: «Mengisch chäma, was mä luit und allne sägä wet, numä lyyslig und fir sich dänkä.»

 

So kündigte er es «heimlifeiss» an für den Vermächtnisband «Tytsch und tyyttlich». Mit bewundernswerter Ausstrahlung las er im Oktober 2023 im Literaturhaus Stans dem Kollegium des Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellervereins aus Unveröffentlichtem vor. «D’Waaret wird hyyffig tänkd, aber sältä gsäid», wird da formuliert, über Politiker, welche «fuilä Chaartä äischter wider nyyw mischlid.» Er hatte sich vorgenommen, das, was für das Regionaljournal und die Zeitung offenbar nicht sagbar blieb, in literarischer Form doch noch unterzubringen. Wenn möglich noch vor dem Zuklappen des Sargdeckels. Es kam anders. Im Reich der Sehnsüchte des Autors und Poeten verblieb am Ende «Natuir» vor «Kultuir» und zumal Politik. Originalton des Siebzigjährigen, in einer Art Tagebuch des Pilzsammlers:

 

«Grosse Lust, in die Wälder zu gehen … Manchmal ist mir, ich sei selber ein Pilz. Dann stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn ich ans Licht gelangen möchte, nach langem, sehnlichem Warten in der Tiefe der Erde. […] Ich stosse gegen die von der Sonne gehärtete oberste Erdschicht und ich fühle, dass mir die Kraft fehlt, sie zu durchbrechen.» Die Sätze aus einem «Tagebuch der Sehnsucht» (2016), illustriert von seinen Künstlerfreunden Franz und Christian Bucher, zeigen uns den Autor Cuonz abseits gewohnter «Sachbezogenheit». Man kannte ihn als präzis und vielfach brillant formulierenden hochprofessionellen Reporter, auch als historischen Autor.

«Schräg in der Landschaft»

Jenseits des Epischen und nur vordergründig Zeitkritischen wurden tagebuchartige, auch aphoristische Aufzeichnungen mit «Texten, Mundartgedichten und Bildern» zu einer Form, womit der gebürtige Bündner zu seiner Vollendung als Porträtist einer «inneren Schweiz» gefunden hat. Nicht zufällig endet die auch autobiografische «Sehnsucht»-Studie mit einem Kapitel über Bruder Klaus. Zur Charakterisierung des Ranfts: «Verwaschen und abgeschliffen sind die alten Steine, immer tiefer sinken sie ab. Hier schwimmt man nicht gegen den Strom. Auch lässt man sich von der Strömung nicht flussabwärts treiben. Der Wildbach lehrt innezuhalten.» Der Text, im Ton von den beauftragten Spezialisten abgehoben, wäre dem vielstimmigen Jubiläumsband «Mystiker, Mittler, Mensch» (2017) als einer der trefflichsten sehr wohl angestanden. Aber Cuonz sah die Dinge offenbar «Schräg in der Landschaft», wie einer seiner Buchtitel, beim früh verstorbenen Verleger Martin Wallimann, nun mal lautete.

 

Sieben Jahre nach seinem gedruckten Pilztagebuch war Romano Cuonz abermals unterwegs zu seinem «Märchenpilz», nicht beim Ranft, aber auf weicherem Waldboden, wo der Verfasser, mit dem Pilzmesser in der Hand, am Vorabend des Tages des Pilgerheiligen Wendelin (19. Oktober) seine Poetenseele unversehens aushauchte. Das Handy hatte der Sammler in seinem Fahrzeug zurückgelassen. Weswegen die von seiner Gattin Ruth alarmierte Polizei den Entseelten erst in der Morgenfrühe dank Hund zu orten vermochte. So erwies sich ein Tagebuchtext über Pilze unverhofft als eine Übung zum «Sterbenlernen». Für den Griechen Platon war dies das Kerngeschäft des Philosophierens. Der Schreibende mit der dem Publikum bekannten Stimme wurde zum Propheten seines Schicksals.

 

Im Pilztagebuch ist noch die Rede von «freundlichen Waldmännlein, die ihre Geheimnisse sorgsam zu hüten wissen. […] Am Wanderweg findet der Sucher die schönen Pilze nicht. Über uns in den Bäumen schallen die perkussiven Töne: das Trommeln eines Spechtes, das heisere Lachen eines Tannenhähers, das Vibrieren, Knarren, Knacken, Ächzen von Ästen, wenn der Wind sie wie ein Xylophon bespielt. Wir gehen langsam. Wir bleiben oft stehen. Wir gucken auch zweimal hin. Wo Augen versagen, muss die Nase helfen. Wir robben und kriechen.» Und «[d]ie Suche ist das Erlebnis … das Sammeln die ernüchternde Genugtuung … der orange-rot leuchtende Blut-Reizker». Der Autor nimmt, wie der Titel des Kapitels verrät, den «Geruch nach Arvenholz» wahr: «Eine seltsame Harmonie von Daheimsein und Genuss.» Daheimsein! In «Tytsch und tyytlich» lesen wir, was der Verfasser im November 1988 seiner Gattin handschriftlich «in Liebe» gewidmet hatte: «Zittrige Värs firnä Liäbeserklärig: ä Bluemä mid Namä aredä.» Authentischer geht wohl kaum.

 

Natur und Menschen, oft in recherchierter Geschichtlichkeit: Romano Cuonz konnte es schildern. Nicht als Heimatschriftsteller, sein zeitkritisches Romanprojekt über Obwalden blieb Fragment. Aus seinen Schilderungen kam aber – oft überraschend – eine innerste Bewegung zum Vorschein. So wurde er, über den Reporter hinaus, ein bekennender Erzähler. Dann und wann geriet ihm das Beobachtete unter der Hand in Poesie. «Herbschtzaiber im Wald» übertitelte Romano (1988) seine Streifzüge in Wald und Busch: «Me wett nu einisch mid beedä Händ nach der Wermi gryfä», vertraute er seinem mit der Illustratorin Chantal Hug produzierten früheren Tagebuchband mit Mundartlyrik und volkskundlichen Porträts in Prosa an.

«Menschen mögen» – auch im Kulturwandel

«Man muss Menschen mögen.» Die Bundesrat-Ogi-Losung wurde bei einem neugierig gebliebenen Publizisten nicht «Führungsgrundsatz», eher schon Basis für vertieftes Verstehen. Mit gönnerhaftem «Verständnis» bei mildernden Umständen ist es nicht zu verwechseln. Sein 2002 veröffentlichtes Porträt eines Vogelfreundes aus Sarnen, des «Kronen-Leo», geriet zu einem unpathetischen Denkmal. Mag die Stimme des Dorforiginals längst verstummt sein: «Iär Vegel cheemid, cheemid!», gerufen auf dem Weg zur Fütterungsstelle beim Seefeld am Sarnersee, bleibt vormaligen Schülern des nahen Benediktinerkollegiums unvergesslich im Ohr. (Von uns Studenten wurde Leo dann und wann spöttisch nachgeahmt.) Im Kapitel «Schwanensee» des kunstvoll gestalteten Bandes «Veränderungen» kommt uns Leo, gescheiterter Kronenwirt, auch beim Servieren näher: Er «winkelte den Ellbogen an, wenn er Bestellungen aufnahm, hielt die rechte Hand zum Trichter geformt an sein Ohr. Er war schwerhörig. Regte er sich über irgendetwas auf, zog er beim Sprechen die Luft zwischen Zunge und Schneidezähnen ein, dabei entstand dieses zischende Geräusch, wie es Schwäne ausstossen, die sich bedroht fühlen.» Den fauchenden Vögeln rief er sein «Cheemid, cheemid!» entgegen, als wären sie die letztverbliebenen Freunde des vereinsamten Originals.

 

Unter «Veränderungen» versteht man volkskundlich einen Kulturwandel, bei dem kulturelle Substanz, menschliche Substanz, jenseits von Idealisierung oder Geringschätzung ein für alle Mal verloren scheint, es sei denn, ein aufmerksamer Chronist wisse es noch zu erzählen. So bei der Charakterschilderung eines heilkundigen Älplers im Kapitel «Heilkünste». Der Protagonist schwört auf den von ihm selber hergestellten Alpenkräuterschnaps Stai-Ruitä, allenfalls vergleichbar mit dem vom geistesverwandten Hanspeter Niederberger (1952–2000) geschilderten Kastenwasser aus der Hexenküche von Giswiler Bergbauern. Cuonz vollendete seine Aufzeichnung bei Betrachtung der Todesanzeige des scheinbar unverwüstlichen Endsechzigers. Die Heilpflanze, die dieser jeweils in seiner Hemdtasche verwahrte, wachse nur auf ein paar wenigen Felsbändern, wo die Sonne den ganzen Tag hinscheine. «Ich habe die Nase dafür, ich kann den starken Duft dieses Krautes noch von weitem riechen», verriet ihm der Älpler. Für die Aufforderung, daraus einen Magentee oder Tropfen zu produzieren, zeigte der von Cuonz virtuos Porträtierte kein Musikgehör. Er kenne zwar Rezepte, aber selber trinke er nur den Schnaps. «Und ich bin noch nie bei einem Doktor gewesen – noch nie!» So lebte und starb der Mann, wonach Cuonz Erfahrungen bei seiner Aufnahme in Luzerns Kantonsspital schildert, im Lift zusammengedrängte Menschen, die Bürokratie, der Fragebogen, das Einatmen und Ausatmen beim Röntgen. Der Professor, «der die Bilder liest, lässt sich nichts anmerken». Der Bericht, vom Patienten dannzumal nicht leicht zu verkraften, folge die Woche darauf per Post.

 

Wie Cuonz für einmal Petrarca zitierte

Für den an der Recherche orientierten Publizisten, auch vorzüglichen Lehrer, galt das Bekenntnis eines vorzüglichen Sachbuchautors der Aufklärung, Johann Georg Zimmermann (1728–1795) aus Brugg:  «Meine eigene Seele würde ich hassen, wenn sie nicht eine rechte Dichterseele wäre.» Der von Lessing als vorzüglicher Stilist Gerühmte formulierte es in einem Essay über den Berner Gelehrten Albrecht von Haller. Der berühmte Alpendichter gehört zu den bei Cuonz nur sparsam zitierten Grössen der Weltliteratur, von dem es ihm aber der gekrönte Dichter Petrarca (14. Jahrhundert) als Leitfigur der Berghumanisten am meisten angetan hatte. Was Cuonz, der sich stets zu den «Kleinen» der Literatur gezählt hat, vom grossen Petrarca aber selbstbewusst zu zitieren wagte: «Nun aber packte es mich, endlich mal auszuführen, was ich jeden Tag schon ausführen wollte.» Für Cuonz war indes nicht der von der Tour de France längst eroberte Mont Ventoux zu besteigen. Aber er blieb lebenslang auf der Suche nach dem Märchenpilz, dem oben genannten Zentralmotiv in seinem späten «Tagebuch der Sehnsucht» (2016). Seine persönlichsten Texte, auch aus dem Band «Wenn d Sunnä durä Näbel schynd» deuten darauf hin, dass der durch beträchtliche Sprachkraft ausgezeichnete Sachbuchautor sich mit gebotener Zurückhaltung die Tür zur Poesie stets offenhielt. Den Weg zu sich selber aber suchte er stets über den genauen Umgang mit den Dingen.

 

«Los emou de Cuonz» (André Schürmann)

Zu den Besonderheiten des auf den Regional- und Lokaljournalismus gelegentlich reduzierten Autors gehören die Zusammenschau der bündnerisch-rätoromanischen Herkunft wie das gedoppelte Nebeneinander zwischen Mundart und deutschschweizerischer Standard-Sprache. Nicht zu vergessen den Bildungshintergrund, zu dem Chur und Arth-Goldau ebenso gehörten wie das Kollegium Sarnen und das Zuger Lehrerseminar St. Michael. Noch stärker als mit der religiösen «Kultuir» der Obwaldner Wahlheimat war er vom Naturalienkabinett des Kollegiums Sarnen (Pater Ludwig Knüsel) angetan, einem vom genialen Pater Emanuel Scherer einst begründeten «Schlüssel» zur Fauna und Flora des Kantons, den reichen Schatz der Flurnamen inbegriffen.

 

Über frühe Weggefährten wie Karl Imfeld, poetisch inspirierter Volkskundler und Verfasser des Obwaldner Mundart-Wörterbuches, die Autoren und Radiomänner Julian Dillier und Geri Dillier erhielt Romano Cuonz aus der jüngeren Generation noch in seinem letzten Lebensjahr hohe Anerkennung durch den Luzerner Literaturvermittler André Schürmann:  Sein Hinweis «Les emou de Gotthäuf. Los emou de Gotthäuf», wird im Jubiläumsband der Innerschweizer Autorschaft zum 80. Gedenkjahr ihrer Organisation ISSV im Band «Schneisen ins Heute» (2023) mit dem Hinweis ergänzt:  «Ond los emou de Dillier, de Cuonz, de Raeber und de Lienert.» Ist diese Einordnung in die Literaturgeschichte der Zentralschweiz gewagt?

 

Meinrad Lienert (1865–1933) entfaltete sich noch vor Meinrad Inglin (1893–1971) als ein Schwyzer Altmeister, der sich für Ausflüge in den Dialekt nicht zu schade war, wie überraschend auch nicht der ultramoderne Luzerner Kuno Raeber (1922–1992). Julian Dillier (1922–2001), von dem sich Cuonz auf dem Weg zur Poesie wesentlich anregen liess, war um die Jahrtausendwende der drittletzte Träger des Innerschweizer Kulturpreises als Literaturpreis. Für die Innerschweiz galt Dillier als Erneuerer der Mundart-Lyrik unweit Kurt Marti, Mani Matter und Franz Hohler. Wie Lienert und Raeber war Dillier in städtische Gefilde (nach Basel) abgewandert, über sein Medium, damals via Beromünster im Äther, repräsentierte er ein Mass der in der Zentralschweiz anerkannten Meisterschaft. Er war es auch, der Romano Cuonz als «Expressionisten der Obwaldner Mundart» zu rühmen wusste, dem jungen Kollegen sprachliche Präzision und kritisches Potential attestierte. Dies zu einer Zeit, da eine frühere traditionell orientierte Mundartliteratur manchmal allzu pauschal mit dem Kitsch des «bluemete Trögli» gleichgesetzt wurde.

 

Der postum publizierte, mit denkwürdigen Aphorismen und präzisen Beobachtungen reichhaltig ausgestattete Band «Tytsch und tyyttlich» stellt als späte Lebensernte das Ende einer langen Gedankenkette dar, vielfältige Erfahrungen widerspiegelnd. Vor uns liegt einiges vom Gehalt eines Lebens, das weder im Schulzimmer noch in der Redaktionsstube, wo der Verfasser seinerseits Massstäbe zu setzen wusste, Erfüllung fand. Als Berichterstatter ländlicher Verhältnisse – oft gehalten im Kleinen und Kleinsten –, zeigte Romano Cuonz in Standardwerken zum Bürgenstock einschliesslich europaweit ausgreifender Hotelgeschichte, aber auch mit Ausblicken nach Afrika und Asien, Perspektiven eines «Weltüberblickers» (Zuname des Obwaldner Autors und «Käspredigers» Josef Ignaz von Ah, 1834–1896) mit präzise erfasstem lokalem Hintergrund bei weitem Horizont, wozu man nicht zwingend NZZ-Autor zu sein brauchte. Kein Geringerer als Hölderlin sah im «Gehaltenwerden im Kleinen» (Hyperion) eine Basis für Perspektiven in das Grosse. Romano Cuonz ging als Familienmensch, Lehrer, Publizist und vielfach begnadeter Autor mit sachtem Schritt durch die Welt, damit nicht etwa noch ein Pilz oder gar ein Buschwindröschen zertreten werde.

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