
«Die Beichte
ist das raffinierteste Marketinginstrument, das je erfunden wurde»
Der Schriftsteller, frühere FDP-Politiker und Alt-Präsident des ISSV Andreas Iten (*1936) hat ein neues Buch veröffentlicht. Es heisst «Weltfrömmigkeit». Herbert Fischer von lu-wahlen.ch hat mit ihm darüber ein Gespräch geführt.
Von Herbert Fischer
Herbert Fischer: Sie haben ein Buch mit fünf Essays veröffentlicht mit dem ungewöhnlichen Titel «Weltfrömmigkeit». Warum wählten Sie das Essay-Format?
Andreas Iten: «Essay» heisst Versuch. Er lässt sich nichts vorschreiben. Er ist ein freies Spiel mit Gedanken, die anregen sollen. Man kann sich dem Thema annähern und sich von ihm entfernen. «Weltfrömmigkeit» ist übrigens ein Begriff, den Goethe geprägt hat.
Was meinen Sie mit «weltfromm»?
Ich will damit sagen, dass wir uns nicht um den Himmel zu kümmern brauchen, sondern um die Erde. Fromm sein heisst, sich dem in Achtung zuwenden, was uns das Leben ermöglicht. Das liegt nicht in der Metaphysik, sondern in der vernünftigen Zuwendung zur Erde.
Sie äussern sich religionskritisch. Das könnte Ihnen Ärger bescheren.
Jeder kann glauben, was er will, aber man sollte seinen Glauben stets hinterfragen und prüfen, ob der Glaube vor der Vernunft steht. Religionen sind menschliche Erfindungen. Sie spalten die Welt. Es war Platon, der hinter der ersten Welt eine zweite, eine metaphysische geschaffen hat, die dann im Christentum zur überragenden Welt wurde.
An eine zweite Welt glauben Sie also nicht?
Sie muss uns nicht interessieren. Die Metaphysik lenkt von den Aufgaben ab, die uns aufgetragen sind. Es geht um ein sinnvolles Leben, das jeder wie erwünscht gestalten kann. Denken kann man alles, aber ohne Bezug zur Erde nützt es nichts. Man bleibt in seinen eigenen Gedanken hängen.
Gedanken, die keinen Bezug zur Wirklichkeit und unserem gelebten Leben haben, ebenso Religionen, die in einem System erstarren, können zu zerstörerischen und bedrohlichen Machtgefügen werden.
Sie sehen in der Religion eine Gefahr?
Religion, die zu einem System erstarrt, wird zu einem Machtgebilde. Das führen uns gegenwärtig die Mullas im Iran vor.
Da heisst es für die Frauen: Wer den Kopf nicht verschleiert, sündigt gegen Gott. Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I. fordert die Gläubigen sogar auf, gegen die «verdorbene Ukraine» zu kämpfen.
Religionskriege haben auch die westliche Welt erschüttert. Bis die Aufklärung die Haltung der Menschen verändert hat.
Da sind wir bei einem zentralen Punkt: Die Aufklärung hat zwar ein Wertesystem definiert und gilt – unter anderem – als Urquelle der Menschenrechte. Genau diese sind jedoch bei weitem nicht umgesetzt; die Mullahs sind nur eines von vielen negativen Beispielen.
Das ist richtig. Menschenrechte werden immer wieder in Frage gestellt, sogar in der westlichen Welt!
In Ihrem Buch wird das Sakrament der Beichte kritisiert, mit einer interessanten Begründung.
Die Beichte ist das raffinierteste Marketinginstrument! Sie können sündigen, die Sünden beichten und schon haben Sie erneut ein weisses, reines Herz. Wie verlockend! So hat man über Jahrhunderte das Volk an die Kirche gebunden. Aber: jeder sich selbst reflektierende Mensch muss mit seinen Verfehlungen selber fertig werden. Moralisches Fehlverhalten kann ihm keine Kirche abnehmen.
Neben dieser Kritik behandeln Ihre Essays auch viele aktuelle Fragen. Sie schreiben beispielsweise über «Lebensmüdigkeit» und stellen ihr den «lebensgesättigten Menschen» gegenüber.
Es geht darum, einen Sinn im Leben zu finden. Und diesen finden Sie, wenn sie etwas schaffen, was für Sie und andere von Bedeutung ist. Das muss nicht etwas Grosses sein.
Sie werden für Ihre Essays nicht nur Anerkennung erfahren.
Man sollte nicht schreiben, wenn man Liebkind sein will. Irgendein heller Kopf hat mal gesagt: wer jedermanns Liebling sein will, ist bald einmal jedermanns Trottel. Das ist für mich sehr stimmig. Gewiss: mein Buch soll herausfordern, vor allem das Denken. Wir leben in einer Zeit der subjektiven Meinungen. Alle haben irgendeine Meinung zu irgendetwas. Da ist Skepsis angesagt, aber vor allem auch eine Verankerung in der Erde, die uns das Leben schenkt.
«Das Denken des Denkens»? Das müssen Sie erklären.
Sie denken etwas für sich und denken stets nur an das, was Sie denken. Sie gehen also immer von sich aus und nicht von den realen Tatsachen. So schwirren Sie in der eigenen Cloud.
Nochmals zurück zur Frage, wie Ihr Buch beim Publikum ankommen könnte. Sie stellen steile Thesen auf. Noch vor 50 Jahren wären Sie im stockkonservativen, rechtskatholisch geprägten Kanton Zug vermutlich gesteinigt worden, hätten Sie sich derlei Provokationen erlaubt. In jenem Kanton, in dem Sie gerade eine höchst erfolgreiche, politische Karriere starten; immerhin brachten Sie es zum Zuger Regierungsrat (20 Jahre, wovon zweimal Landammann) und später zum Ständerat (12 Jahre).
Nein, damals war ich mit meiner Lebenserfahrung noch ein Anfänger. Als Politiker spielt man eine Rolle und muss ihr genügen, man nimmt eine Position ein und hat zu erledigen, was die Rolle erfordert. Das heisst: erfüllen, was die Wähler erwarten. Da geht es nicht um religiöse Gefühle, sondern um Pflichten. Mein Buch ist eine Art Konfession, die auf der Lebenserfahrung beruht und auf einer anderen Art des Glaubens, jener Glaube an eine Erde, die uns umfängt und die wir bewahren müssen. Wir leben von ihr und werden am Ende zur ihr zurückkehren: «Erde zu Erde», wie es bei Beerdigungen jeweils heisst.
Kann kämpferischer Humanismus Frieden sein? Ist nicht überall dort, wo Kampf ist Krieg?
Insgesamt wirken Ihre Antworten pessimistisch – wenn nicht gar fatalistisch. Haben Sie auch eine Botschaft der Hoffnung, die anderen Leuten Mut macht? Ich denke vor allem an die vielen erfreulichen, jungen Menschen, die sich für einen kämpferischen Humanismus engagieren und ihn glaubwürdig verkörpern.
Ich glaube, mein Buch ist kämpferischer Humanismus. Eine moderne Art von Konservatismus. Die Botschaft heisst: bewahrt die Erde, damit wir gesund und frei leben können, sozusagen ein neues Narrativ. Weltfromm leben heisst also, zur Erde Sorge tragen. Überlegen, was ein gelingendes Leben bedeuten könnte. Der ganze Essay beschäftigt sich nur damit. Zu Beginn habe ich das ausführlich dargestellt, es zieht sich durch alle fünf Abschnitte durch, bis zum Kapitel «Weltfrömmigkeit». Dort wird deutlich, worauf es mir ankommt. Nicht Pessimismus, vielmehr ein Aufruf zu einem realen, wahrhaften Leben.
Was ist ein «reales, wahrhaftes Leben»?
Es gibt Wirklichkeiten, die nicht geleugnet werden können, die muss man anerkennen. Man kann nicht mehr behaupten, «alles sei relativ». Beispiel «Klimawandel ist nicht real.» Das ist falsch und unwahr. Mir geht die Wissenschaftskritik heute zu weit: was nicht passt, darf nicht wahr sein.